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KRITIK – GRIGORY SOKOLOV BEI DEN SALZBURGER FESTSPIELEN

EIN BLICK IN DIE SEELE

06.08.2021 von Johann Jahn

Magier – dieses Wort taucht oft auf im Zusammenhang mit Grigory Sokolov. Der russische Pianist gilt als einer der größten unserer Zeit. Und einer der scheuesten und eigenwilligsten: Ebenso berühmt wie sein fabelhaftes Spiel ist seine Abneigung gegen Interviews. Und seine rigorose Ablehnung des Studios: Sokolov spielt nur live, nur solo. Am Donnerstagabend war er mit Chopin und Rachmaninow zu Gast bei den Salzburger Festspielen. Und hat wieder gezaubert.
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Grigory Sokolov ist eine lebende Legende. Das hat in erster Linie mit seinem schier übermenschlichen Können zu tun, aber auch mit seiner schrulligen Art, seiner radikalen Fokussierung auf das Wesentliche: Die Musik, die er spielt. Seine Konzerte umweht längst der Hauch eines Rituals, und das fängt schon beim Auftritt an: unscheinbar, fast als wäre es ihm unangenehm, etwas geduckt und zügig, schreitet er zum Flügel, macht die Andeutung einer Verbeugung, setzt sich hin und spielt sofort los.

CHOPINS POLONAISEN NEU KENNENLERNEN


Und wie so oft bei Sokolov lernt man vermeintlich Bekanntes nochmal neu kennen, in diesem Fall die Polonaisen von Chopin. Wie da Mittelstimmen plötzlich ganz klar hervortreten, Oktaven nicht grob gezimmert, sondern scharf geschnitzt werden, Akkorde nicht als Brei sondern als transparente Summe ihrer Töne hervorschimmern, das ist stupende Technik kombiniert mit einem sensationellem Gespür für den Moment.

WIE EINE SKULPTUR VON MICHELANGELO


Überhaupt, der Moment: Sokolov vollbringt das Kunststück, sich im Moment zu verlieren und trotzdem eine formvollendete Skulptur wie von Michelangelo abzuliefern. Kein Rubato ist da übertrieben, kein Vorschlag zu kurz, kein Pedal zu tief oder zu lang gedrückt – und dennoch entsteht immer eine Natürlichkeit, eine Herzlichkeit, eine entwaffnende Echtheit, die sofort berührt. Die nichts Mechanisches hat, was man bei all der Perfektion vielleicht vermuten könnte. Bei Sokolovs Chopin schwingt immer auch Menschlichkeit mit, tief empfundene Ahnung.

SOKOLOV SCHAUT HINAB IN DIE SEELE


Bei den Préludes op. 23 von Sergej Rachmaninow schaut Sokolov vielleicht noch einen Tick weiter hinab in die Seele, entlockt dem riesigen Flügel immer wieder Schattierungen am Rande der Hörbarkeit, tupft mit der linken Hand Felder, die nach und nach zum Bild werden, setzt wuchtige Ausrufezeichen, ohne brachial zu donnern. Diese Bässe, die da in den Himmel des Großen Festspielhauses entsandt werden: es grenzt mal wieder an Magie.

SECHS ZUGABEN


Und dann, wie immer bei Sokolov, geht nach dem Konzert die Lehrstunde weiter. Mit den gewohnten sechs Zugaben, die dieses Mal von Brahms und Chopin stammen. Und mit der Busoni-Bearbeitung eines Bach-Chorals enden: "Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ" – ein Evergreen der Zugaben, oft pathetisch verschleppt und überromantisiert. Unter Sokolovs Händen: seligmachend.

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