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Grigory Sokolov: Der Klaviergott der kleinen Dinge

Joachim Mischke

19.03.2019

Grigory Sokolov

Pianist Grigory Sokolov bei der Probe vor dem Konzert in der Laeiszhalle.    Foto: Marcelo Hernandez

Der Starpianist spielte in der Laeiszhalle und verzauberte mit seiner Mischung von Formbewusstsein und Anmut.

Hamburg.  Wann kann, darf, muss ein Klavierabend spektakulär genannt werden? Sobald am Ende ein möglichst hoher Berg Noten mit klarer Überwältigungsabsicht unfallfrei durch den Flügel gejagt wurde? Nachdem der eine, einsame, glückliche oder todtraurige Mensch im Rampenlicht zwei Stunden lang sein Bravour-Pensum vorgeführt hat, zur wohlfeilen Begutachtung des hart antrainierten Virtuositätsnachweises? Mag durchaus sein, dass viele das so sehen. Gut denkbar, dass viele nur in diese schnittige Richtung hören, erst recht, weil viele – je jünger, desto eifriger und eiliger – in diese Richtung auftreten.

Und dann gibt es da noch diesen Grigory Sokolov.

Dem ist diese Perspektive von Herzen egal, Repertoire-Moden ignoriert er ohnehin noch nicht mal. Tischdeckengroße Frackschöße am Rücken, mit verknautschter Miene zum Instrument strebend, beruhigendes Halbdunkel im Saal, spielt er in regelmäßigen Abständen seelenruhig und eindringlich vor sich hin. Feste Verhaltensregeln, er will es so und zelebriert es so.

 

Sokolov will Publikum disziplinieren

Mit seinem neuen Programm, das der eigenwillige Russe nun in der Laeiszhalle präsentierte, geht er den entgegengesetzten Weg, weg von der eingängigen Gefallsucht. Er wollte nun vor allem das Große, das Großartige gar im Kleinen und Unterschätzten finden. Nicht die schlechteste Idee, um ein Publikum zu disziplinieren, um ihm mit sanfter Zielstrebigkeit eine Lektion zum Thema Aufmerksamkeit zu verabreichen. Deswegen kein Rauschen und Rasen, das alles zudeckt, kein Wüten und Wabern.

Stattdessen: die dritte, überschaubar komplexe Beethoven-Sonate (wenn man das von einem dieser 32 Wunder-Werke überhaupt sagen kann) zur Einstimmung und dazu dann nur noch vermeintliche Petitessen von Beethoven und Brahms, fast zwei Dutzend Stückchen. Und – auch mal schön – nicht nur hundertzehnprozentige manuelle Perfektion, sondern hier, da und dort auch mal kleine Ausrutscher auf Nachbartasten. Doch Fehlerlein auf diesem intellektuellen und musikalischen Niveau würden viele andere liebend gern machen können.

Sokolov spielt mit klarem, transparentem Ton

Interessant an Sokolovs Perspektive auf die C-Dur-Sonate war die ausgewogene Mischung von Formbewusstsein und Anmut. Man kann das scheinbar mühelos rasanter spielen, risikosuchender, aufgekratzter und vielleicht noch perlender. Sokolov allerdings spielte das Stück lieber mit klarem, leichtem und transparentem Ton als Vorahnung kommender stilistischer Umwälzungen. Einfacher wurde es dadurch keineswegs.

Massig, mächtig und wuchtig war noch nichts, Sokolov skizzierte mit gespannter Gelassenheit die inneren Abläufe und Ideenströme, mit sehr feinem Pinsel. Und schon der geschmackvolle Umgang mit dem Hauptthema des Kopfsatzes war eine Einweisung in gute pianistische Manieren alter Schule, in die Kunst, aus einem ersten Motivaufblitzen eine Welt entstehen zu lassen und sie zu ordnen.

Manchmal klang die Unterforderung leise durch

Umso interessanter war der gewollte harte Kontrast vom Sonatenformen über vier lange Sätze zu den schnell dahingeworfenen Fingerübungen, die Beethoven als „Elf neue Bagatellen“ möglichst schnell zu Geld und nicht in erster Linie zu Ewigkeitswerken machen wollte.

Ein Zettelkasten aus wiedergefundenen Inspirationen und halbgenutzten Absichtserklärungen, den die meisten Pianisten aus Sokolovs Güteklasse großräumig umspielen, weil es so viel Anstrengenderes gibt. Und auch hier gelang Sokolov das Kunststück, den so unterschiedlich mal eben durch den Raum wirbelnden Charakterstücken tatsächlich Charaktere und Profile zu verleihen.

Sensationen wurden deswegen nicht aus ihnen, und mitunter klang die Unterforderung leise durch, als würden sich Sokolovs Hände mittendrin über das Ausbleiben größerer Herausforderungen wundern, weil sie schon nach wenigen Momenten immer wieder ins Leere zu greifen haben.

Doch Überraschungen blieben es, die Sokolov respektvoll und mit großer Aufrichtigkeit präsentierte; wie jene selbstgebastelten Geschenke, bei denen leider noch der letzte Schliff und auch die farblich passende Schleife fehlt, die aber dennoch allesamt von Herzen kommen.

Bei Brahms war Sokolov in seinem Element

Verdichtung und Verinnerlichung, der Blick nach innen, die Abkehr von Außenreizen – was Beethoven in den Bagatellen nur kurz streifte, verfestigte Brahms in seinen zehn späten Klavierstücken op. 118 und op. 119 zu Abschieden. Hier war Sokolov, obwohl er zunächst sehr forsch und mit viel Volumen hinlangte, in seinem Element angekommen: beim Zaubern am Rande der Hörbarkeit, am schönsten wohl im A-Dur-Intermezzo.

Während er die beiden Sammlungen zu ihrem Ende hin immer mehr verdunkelte und vernebelte, setzte er mit behutsamer Leichtigkeit Glanzlichter in diese Dämmerung: Hier eine Bassfigur, die man nur noch ahnen konnte, dort eine kleine, feine Zäsur bei einem Vorhalt, um diese melancholische Innenspannung klar zu machen, die Brahms‘ Musik ihre tiefe Weite gibt. Die Konturen verschwammen, wie bei einem Himmelspanorama von Turner, bevor Sokolov die Es-Dur-Rhapsodie als stolz auftrumpfendes Finale abrundete.

Zurück ließ er die Gewissheit, dass diese Spätwerke nichts für Oberflächenpolierer sind. Riesiger Beifall, wie immer; sechs Zugaben, natürlich.

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